Alle mitnehmen
Nachhaltigkeit ist eine Menschheitsaufgabe. Professor Holger Hanselka, scheidender Präsident des KIT, Professorin Kora Kristof, Vizepräsidentin Digitalisierung und Nachhaltigkeit des KIT und Professor Thomas Hirth, Vizepräsident Transfer und Internationales des KIT erklären, welche Rolle die Wissenschaft im Umbruch zu einer nachhaltigen Gesellschaft spielt, warum junge Menschen dabei so wichtig sind und wie das KIT fit werden soll für eine nachhaltige Zukunft.
Frau Kristof, Herr Hanselka, Herr Hirth. Welche Herausforderungen bringt das Thema Nachhaltigkeit für das KIT mit sich?
Hanselka: Nachhaltigkeit ist für uns ein Thema, das immer relevanter wird und viele Facetten hat. Was können wir aus wissenschaftlich-technischer Sicht beitragen zur Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft? Wie stellen wir uns mit Blick auf den Klimaschutz auf? Es ist vor allem eine Frage der Haltung. Vielleicht haben wir durch die Industrialisierung, Globalisierung und Digitalisierung an einigen Stellen den Boden unter den Füßen verloren. Um ihn zurückzugewinnen, müssen wir uns als Gesellschaft, als Universität und persönlich weiterentwickeln.
Kristof: Ganz wichtig ist, dass wir Nachhaltigkeit in allen unseren Kernaufgaben verankern – in Forschung, Studium und Lehre, Innovation, Transfer und als Institution – und dass wir dabei ganzheitlich denken. Es geht um Klimaschutz, Umweltschutz, Ressourcenschonung, Artenvielfalt, um wirtschaftliche Herausforderungen und um soziale Fragen. Wir müssen unseren Beitrag als forschungsstarke Universität und als Institution insgesamt leisten. Grundsätzlich geht es immer darum, gute Antworten auf konkrete Herausforderungen zu geben.
Hirth: Das Thema Nachhaltigkeit ist inzwischen in der Breite der Gesellschaft angekommen. Politik und Wirtschaft gehen es weltweit mit einer neuen Ernsthaftigkeit an. Acht Jahre nach der Pariser Klimakonferenz und der Einigung auf das 1,5-Grad-Ziel ist die Notwendigkeit zum Handeln endlich allen deutlich geworden. Das heißt aber auch: Alle fragen bei der Wissenschaft intensiver nach. Sie erwarten, dass wir an umsetzbaren Lösungen mitarbeiten und dabei Widersprüche zwischen ökologischen Forderungen, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Umsetzbarkeit auflösen. Das geht nur im Dialog. Und den suchen wir auf der KIT Science Week.
Wie können Sie sich in dieser Situation als Forschende positionieren?
Hanselka: Wir müssen der Öffentlichkeit authentisch begegnen. Die Menschen wollen keine „Symbolforschung“. Dass wir mit dem Klimaschutz eine riesige Aufgabe zu stemmen haben, ist unstrittig. Aber Klimaforschung allein rettet kein Klima. Wir müssen an die Ursachen herangehen. Wie leben wir? Wie reisen wir? Wie produzieren und konsumieren wir? Als technische Universität ist es dann zum Beispiel unsere Aufgabe, Produkte und Prozesse so weiterzuentwickeln, dass ihr CO2-Fußabdruck kleiner wird. Es geht nicht darum, alles zu verbieten, sondern darum, Technologien zu verbessern oder zu ersetzen. Das müssen wir in die Diskussion bringen.
Hirth: Wir leben in einer Epoche, die durch Umbrüche auf vielen Ebenen gekennzeichnet ist. Wie zur Zeit der industriellen Revolution verändert das unsere Gesellschaft grundlegend und die Gefahr ist groß, dass es dabei zu Verwerfungen kommt. Mit unserer wissenschaftlichen Arbeit, den Lösungen, die wir entwickeln, und den jungen Menschen, die wir ausbilden, können wir helfen, das zu verhindern. Wenn wir glaubwürdig sein wollen, müssen wir den Leuten aber auch erklären, warum Verzicht und eine andere Lebensweise nicht ausreichen und es ohne technische Lösungen nicht geht.
Kristof: Daran würde ich gerne anknüpfen. Wir müssen das ganze Spektrum möglicher Lösungen abdecken, von Effizienz, Konsistenz, Resilienz bis zur Suffizienz. Wichtig ist außerdem, dass unsere Lösungen in der Praxis ankommen. Deswegen fördern wir die transdisziplinäre Forschung – zum Beispiel in Reallaboren – mit Akteurinnen und Akteuren aus der Praxis – aus der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik. Wenn wir die Menschen überzeugen wollen, dürfen wir nicht an ihren Bedürfnissen vorbei entwickeln.
Auch die KIT Science Week setzt ja auf neue Formen der Beteiligung.
Hirth: Genau. Sie bietet uns einerseits große Chancen die drängenden Herausforderungen, die wir für die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft bewältigen müssen, in all ihren Facetten zu beleuchten, das Bewusstsein zu schärfen und zu zeigen, was wir tun. Andererseits können wir Impulse aus der Gesellschaft für unsere tägliche Arbeit mitnehmen. Das ist wichtig, weil wir oftmals Dinge durch die Brille der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers sehen und dabei einiges auch übersehen. Deswegen wollen wir vor allem mit jüngeren Menschen und mit denen, die vielleicht etwas bildungsferner sind, ins Gespräch kommen. Jede Bürgerin und jeder Bürger soll wissen, dass das, was wir tun, von Nutzen ist. Dazu kann die KIT Science Week einen großen Beitrag leisten.
Welche Rolle spielen Studierende und Nachwuchsforschende, um Nachhaltigkeitsthemen in die Gesellschaft zu bringen?
Kristof: Rund 5.000 Studierende verlassen jedes Jahr diese Universität. Wenn wir ihnen mitgeben konnten, dass jedes Produkt, jede Infrastruktur, jede Produktionsstruktur, die sie in ihrem Beruf entwickeln oder verantworten, nachhaltig im ökologischen, sozialen und ökonomischen Bereich sein muss, kann das eine große Wirkung erzielen. Unsere Studierenden sind sehr engagiert, wollen, dass das KIT sich nachhaltig aufstellt, und gemeinsam mit uns etwas bewegen. Das ist sehr viel wert.
Hirth: Diese Generation will etwas Sinnstiftendes machen, wenn sie ihren Job in der Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Verwaltung antritt. Das ist eine Chance. Dort müssen wir sie abholen, ihnen gute Angebote machen und an ihr Verantwortungsbewusstsein appellieren.
Was bedeutet das für die Lehre?
Hanselka: Wir müssen ihnen eine Ausbildung anbieten, die in die Breite und in die Tiefe geht – damit sie die grundsätzlichen Fähigkeiten mitnehmen, aber auch ganzheitlich zu denken lernen. Wir haben uns immer weiter spezialisiert und bilden auch immer spezialisierter aus. Früher haben wir entlang des Produktlebenszyklus studiert, heute geht man in jedes Detail so tief hinein, dass man die Beziehung zum übergeordneten Zusammenhang verliert. Mit Blick auf Nachhaltigkeit bedeutet das: Sie gehört als fester Bestandteil in jeden Studiengang.
Hirth: Sie darf nicht nur ein „Add-on“ sein. Aber es ist sicherlich ein Balanceakt, die eigene Fachdisziplin zu durchdringen und gleichzeitig den Blick für das große Ganze nicht zu verlieren.
Kristof: Das kann gelingen. Nachhaltige Chemie zum Beispiel ist bereits jetzt teilweise schon integraler Teil des Chemiestudiums. Entscheidend ist, dass wir Nachhaltigkeit in alle Kernstudiengänge einbauen. Die Studierenden fragen das auch gezielt nach. Ich finde es darüber hinaus wichtig, dass die Studierenden bei uns Kompetenzen erlernen, erfolgreich Veränderungen voranzutreiben, proaktiv mit Widerständen umzugehen und damit ihre guten Ideen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen. Wir müssen Studierenden und Forschenden also auch vermitteln, wie Transformation gelingen kann.
Sie wollen das „ganze KIT“ nachhaltig machen. Wie gehen Sie dabei vor?
Kristof: Ich möchte dieses Haus auf dem gemeinsamen Weg Richtung Nachhaltigkeit – in unseren Kernbereichen Forschung, Lehre, Innovation, Transfer und als Institution – mitnehmen und für einen Bewusstseinswandel gewinnen. Zentrale Fragen sind beispielsweise: Wie kommen wir zu realen substanziellen Veränderungen? Welche Forschungsfragen verstärken wir? Wie entwickeln wir unsere Studiengänge weiter? Wie stellen wir uns im Gebäudebereich, in den Kantinen, mit unserer beruflichen Mobilität neu auf? Wie bringen wir uns in gesellschaftliche Prozesse außerhalb des KIT ein? Diese Fragen können wir nur gemeinsam beantworten. Deswegen umfasst unsere Nachhaltigkeitsstrategie alle Aktivitäten des KIT. Einen solchen Kulturwandel kann man nicht von oben verordnen. Wir planen eine breite, effiziente Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen sowie der Studierenden.
Schauen wir zum Schluss noch einmal über das KIT hinaus. Die Gestaltung von Nachhaltigkeit, vor allem der Klimaschutz, ist komplex und von Konflikten begleitet. Wie können wir diese Gestaltung richtig aufgleisen?
Hanselka: Das ist tatsächlich die Kardinalfrage. Die Menschen reagieren auf Anreize. Wir könnten über Steuern steuern. Das ist ein Hebel, der zumindest in unserer Gesellschaft funktioniert. Wenn man das CO2 entsprechend bepreist, kann man sich viele Aktivitäten sparen. Wenn die Menschen in Richtung kostengünstigerer Lösungen ausweichen wollen, ist dann aber auch entscheidend, dass es Angebote gibt – egal ob es um Mobilität oder das Heizen geht.
Kristof: Die grundlegende Änderung, die jetzt ansteht, hat deutliche Auswirkungen auf viele Menschen, Institutionen und Unternehmen. Dies gilt es von Anfang an mitzudenken. Wir brauchen deshalb eine integrierte Politik für eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation, die auch wirtschaftliche, rechtliche, institutionelle und kommunikative Fragen zusammendenkt.
Hirth: Die Gesellschaft braucht vor allem Orientierung. Meine große Sorge ist, dass wir in den vielen Umbruchsprozessen nicht mehr alle mitnehmen können. Niemanden abzuhängen, ist mit Blick auf den Zusammenhalt in solchen Zeiten essenziell.